Beobachtungen

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Aus Gründen der Übersichtlichkeit gliedern sich die Beobachtungen in zwei Teile. Der erste behandelt das erstinstanzliche Asylverfahren (für welches das Staatssekretariat für Migration SEM verantwortlich zeichnet), der zweite widmet sich dem zweitinstanzlichen Asylverfahren (welches vor dem Bundesverwaltungsgericht BVGer stattfindet).


1. Beobachtungen zum und Kritik am erstinstanzlichen Verfahren

1.1. Im Rahmen des beschleunigten Verfahrens traten gehäuft Verletzungen des Untersuchungsgrundsatzes durch das SEM auf.

Insbesondere in Fällen, in welchen medizinische Abklärungen oder die vollständige Sachverhaltsabklärung zur Debatte standen, arbeitete das SEM unsauber. Dies lässt sich sowohl durch Einzelfallbeispiele – dokumentiert durch die SBAA – als auch durch die hohe Rückweisungsquote in Beschwerdefällen vor Bundesverwaltungsgericht belegen. Beides zeigt die mangelhafte Qualität der Asylentscheide auf, die wiederum der Verfahrensbeschleunigung geschuldet ist. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe SFH hat im Rahmen ihrer Stellungnahme vom Februar 2020 ebenfalls auf dieses Problem hingewiesen.

1.2. Lediglich 18% aller Asylverfahren prüft das SEM im erweiterten statt im beschleunigten Verfahren. Dies weicht vom ursprünglichen (40%) und vom nachträglich angepassten (28%) Richtwert deutlich ab (vgl. «Neues Asylverfahren: Bilanz der SFH»). Die Triage ins erweiterte Verfahren erfolgt zu selten.

Diese Praxis führt dazu, dass viele Asylentscheide zu Unrecht im beschleunigten Verfahren getroffen werden und den Betroffenen lediglich die verkürzte Beschwerdefrist zur Verfügung steht. Eine Vielzahl an Beschwerden aus rein verfahrensrechtlichen Gründen wurde diesbezüglich vor BVGer eingereicht. Das Urteil E-6713/2019 vom 9. Juni 2020 des Bundesverwaltungsgerichts setzt sich letztlich mit diesem Problem auseinander und bestätigt, dass das SEM zu Unrecht Asylgesuche im beschleunigten Verfahren abhandelte und stattdessen eine Triage ins erweiterte Verfahren nötig gewesen wäre.

1.3. Das SEM scheitert an seinen eigenen Vorgaben und missachtet in Folge die vorgesehenen Behandlungsfristen. Die anderen involvierten Stellen bekunden grosse Mühe, die vorgesehenen Behandlungsfristen immer einzuhalten.

Die im beschleunigten Verfahren vorgesehenen Behandlungsfristen sind äusserst kurz und schaffen enormen Zeitdruck für alle Beteiligten. Das SEM schafft es mitunter nicht, die Behandlungsfristen einzuhalten und setzt bspw. erneute Anhörungen zu Asylgründen an, nachdem der Zeitrahmen dafür bereits abgelaufen ist. In solchen Fällen müsste eine Triage ins erweiterte Verfahren erfolgen (vgl. 1.2.), doch dies wurde oft nicht gemacht. Für den Rechtsschutz bestehen sehr knappe Fristen für Stellungnahmen und Eingaben sowie ein dicht gestaffelter Kalender mit (zu) vielen Terminen. Im schlimmsten Fall müsste die Rechtsvertretung an einer Anhörung einer asylsuchenden Person teilnehmen und gleichzeitig den Rekurs für eine andere asylsuchende Person verfassen. Diese Situation führte immer wieder zu Handwechseln unter den Rechtsvertretungen. Ärzt*innen müssen nicht selten medizinische Gutachten innerhalb weniger Tage oder gar Stunden verfassen. Dieser stetige Zeitdruck wirkt sich negativ auf die Qualität der Asylentscheide aus, beeinflusst die Beschwerdearbeit und führt bei den asylsuchenden Personen selbst zu grossem psychischem Stress.

1.4. Das SEM berücksichtigt die Stellungnahme der Rechtsvertretung zum Entscheidentwurf nur spärlich und standardisiert.

Es wird beobachtet, dass die Stellungnahme der Rechtsvertretung zum Entscheidentwurf im definitiven Asylentscheid kaum Beachtung findet. Zwar wird sie formell berücksichtigt im Rahmen eines Textbausteins – doch sie bleibt ohne Wirkung auf den Entscheid. Die Frist für die Stellungnahme ist mit 24 Stunden äusserst kurz. Insgesamt stellt sich die Frage nach dem Mehrwert von Entscheidentwurf und Stellungnahme.

1.5. Die periphere geographische Lage einiger Bundesasylzentren verunmöglicht die Verwirklichung eines menschenwürdigen Alltags.

Dieses Problem tritt zwar nicht in allen Asylregionen gleich auf. In den betroffenen Regionen (vornehmlich in der Romandie) ist es indes so, dass die periphere Lage des Bundesasylzentrums zu Mobilitätseinschränkungen und damit zur Verunmöglichung eines menschenwürdigen Alltags der asylsuchenden Menschen führt. Ihnen wird der Kontakt zur Aussenwelt praktisch verwehrt, was zu einer sozialen Ausgrenzung führt. Verstärkt wird dieses Problem durch die prekäre finanzielle Lage der Betroffenen.

1.6. Die räumliche Nähe zwischen SEM und Rechtsschutz führt oftmals dazu, dass die asylsuchenden Personen die Trennung gar nicht wahrnehmen.

Es hat sich gezeigt, dass die asylsuchenden Personen, wenn sie eine der im Bündnis vertretenen Stellen aufsuchen, das Konzept der unentgeltlichen Rechtsvertretung in den BAZ nicht verstanden haben. Häufig wissen sie gar nicht, dass sie eine Rechtsvertretung haben, noch wer diese genau ist. Entsprechend wird oftmals von «the guys in the camp» oder ähnlichem gesprochen, was wiederum aufzeigt, dass die Unterscheidung zwischen SEM und Rechtsvertretung den Betroffenen nicht klar ist. Entsprechend leidet das Vertrauensverhältnis und die Unabhängigkeit der Rechtsvertretung wird empfindlich in Frage gestellt. Das Konzept «Alle(s) unter einem Dach» ist dafür hauptverantwortlich.


2. Beobachtungen zum und Kritik am zweitinstanzlichen Asylverfahren.

2.1. Die Mandatsniederlegung durch den Rechtsschutz erfolgt häufig. Dies zeigt sich in den im langjährigen Vergleich tiefen Beschwerdequoten in den Bundesasylzentren.

Die Beschwerdequote in den Bundesasylzentren liegt im untersuchten Zeitraum bei 12.5%1. Ausserhalb der Bundesasylzentren, also in extern vertretenen oder unvertretenen Beschwerdefällen, liegt sie bei 14.4%2. Insgesamt wurde also gegen 24.7%3 aller anfechtbaren Entscheide vor BVGer Beschwerde eingereicht. Dieser Prozentsatz entspricht in etwa dem jährlichen Mittel der Jahre 2015-2018. Die Beschwerdequote in den BAZ ist also etwa halb so hoch wie im Regelbetrieb vor Inkrafttreten der Neustrukturierung.

2.2. Die Mandatsniederlegung durch den Rechtsschutz erfolgt zu oft zu Unrecht.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in Fällen im externen Vertretungsverhältnis die eingereichte Beschwerde in hochgerechnet 90 von 1587 Fällen eingehend geprüft und als nicht aussichtslos erachtet. In den durch das Bündnis vertretenen Fällen traf dies in 25 von 428 Erledigungen vor BVGer zu. In all diesen Fällen hätte die Rechtsvertretung im BAZ ihr Mandat nicht niederlegen dürfen. Das Beschwerdeverfahren ist an sich in der Fallpauschale, die die Rechtsvertretung im BAZ erhält, mit eingerechnet. Die Rechtsvertretung kann grundsätzlich nur dann ihr Mandat beenden, wenn sie eine Beschwerde als aussichtslos erachtet (Art. 102h Abs. 4 AsylG). Es wird vermutet, dass das Mandat oftmals aus Zeitgründen niedergelegt wurde. Gerade bei Entscheiden, die sich primär auf die mangelnde Glaubhaftigkeit der Aussagen der asylsuchenden Person stützen, gibt es für die Mandatsniederlegung sonst kaum eine Erklärung. Fast jede dritte Beschwerde vor BVGer, die zurückgewiesen oder (teilweise) gutgeheissen wurde, stammt nicht vom mandatierten Rechtsschutz in den BAZ.

2.3. Die Qualität der Asylentscheide des SEM ist mangelhaft.

Der mandatierte Rechtsschutz erzielte in 499 Erledigungen vor BVGer insgesamt 115 Rückweisungen und 45 (Teil)Gutheissungen. Dies entspricht einer «Erfolgsquote» von 32%.9 In Vertretungen ausserhalb der BAZ wurden bei 158 Erledigungen 26 Rückweisungen und 10 (Teil)Gutheissungen erzielt. Dies entspricht einer «Erfolgsquote» von 22.8%.10 Das Bündnis hatte hierbei in 42 der insgesamt 158 Fälle die Vertretung inne und war dabei in 16 Fällen vor Bundesverwaltungsgericht erfolgreich.11 Bei 410 Erledigungen ohne Mandat resultierten immer noch 21 Rückweisungen und 9 (Teil)Gutheissungen und eine «Erfolgsquote» von 7.3%.12 Insgesamt waren also 22.8% aller Beschwerden vor BVGer erfolgreich, was im Vergleich zum langjährigen Mittel (11.4 %)13 enorm hoch ist.

2.4. Ob der mandatierte Rechtsschutz eine Beschwerde vor BVGer erhebt, variiert regional äusserst stark.

Nicht in allen Asylregionen wird gleich häufig eine Beschwerde gegen einen anfechtbaren Entscheid vor BVGer erhoben. Die Aussicht einer asylsuchenden Person auf eine Beschwerde ist bspw. in der Romandie fast viermal höher als in der Region Ostschweiz.14 Dies wirft Fragen auf – agieren die Leistungserbringer Rechtsschutz doch auf Bundesebene.

2.5. Die periphere geographische Lage einiger Bundesasylzentren verunmöglicht den Asylsuchenden, sich gegen einen abschlägigen Asylentscheid zu wehren.

Wenn die mandatierte Rechtsvertretung des BAZ ihr Mandat niederlegt, muss die asylsuchende Person innerhalb von ein paar wenigen Tagen Kontakt zu einer externen Beratungsstelle oder Anwältin aufnehmen. Diese muss dann auch noch die nötigen Ressourcen haben, um den Fall sofort zu bearbeiten. Geographisch abgelegene Standorte von Bundesasylzentren machen es demzufolge nahezu unmöglich, rechtzeitig eine externe Vertretung zu finden. Dadurch wird das Recht auf eine wirksame Beschwerde ausgehöhlt. Verzögerungen bei der Aktenübergabe- und/oder -einsicht verschärfen das Problem.

2.6. Es existiert eine ungenügende Koordination zwischen den einzelnen Leistungserbringern Rechtsschutz. Der Wille, gemeinsam auf die Rechtsfortbildung im Sinne der asylsuchenden Personen einzuwirken, ist nicht erkennbar.

Erstmalig existiert in der Form des mandatierten Rechtsschutzes eine Rechtsvertretung für alle asylsuchenden Personen in der gesamten Schweiz. Jeder einzelne Asylentscheid läuft durch die Leistungserbringer Rechtsschutz. Dieses Novum würde Chancen bieten. Den Leistungserbringern Rechtsschutz wäre es möglich, die Entscheide des SEM flächendeckend zu überwachen, zu analysieren, gemeinsam Beschwerdestrategien zu entwickeln (bspw. zur Dublin-Praxis) und damit auf die Rechtsfortbildung einzuwirken. Derzeit sind solche Ansätze (noch) nicht erkennbar. Stattdessen wird stark auf die Entscheidpraxis des Bundesverwaltungsgerichts abgestellt, die kaum hinterfragt und damit zementiert wird.

2.7. Die Beschwerdefristen vor BVGer im beschleunigten Verfahren sind zu kurz.

Wird eine asylsuchende Person nach Mandatsniederlegung bei einer externen Vertretung vorstellig, verkommt die Beschwerdeerhebung oftmals zur nahezu unmöglichen Aufgabe. Vorausgesetzt, dass alle Abläufe im Optimum vonstatten gehen, bleiben der externen Vertretung meistens maximal fünf Arbeitstage zur Ausarbeitung einer Beschwerde. Dies ist angesichts der betroffenen Rechtsgüter und im Vergleich zu allen anderen Rechtsverfahren viel zu wenig. Es wird zudem vermutet, dass die Rechtsvertretung in den BAZ ihr Mandat oftmals aus Zeitgründen niederlegt. Dies untermauert zusätzlich, dass die Beschwerdefrist zu kurz bemessen ist.

2.8. Das Verständnis der eigenen Unabhängigkeit des Rechtsschutzes bleibt anzuzweifeln.

Die Unabhängigkeit eines staatlich finanzierten Rechtsschutzes ist seit 2010 ein umstrittenes Thema (vgl. auch Gutachten im Auftrag der DJS-JDS vom August 2015, S. 11 ff.; https://bit.ly/2Z8NnIt). Ungeachtet der Probleme, welche die Finanzierungsebene mit sich bringt, hat sich nun insbesondere während der ersten Monate der Corona-Krise gezeigt, dass diese Unabhängigkeit auch anderweitig anzuzweifeln ist. In den letzten Monaten wurde über die Sistierung der Asylverfahren «während Corona» in der Öffentlichkeit viel diskutiert – doch genau die Leistungserbringer Rechtsschutz blieben stumm. Journalistische Anfragen zum Thema gingen gänzlich ins Leere oder wurden ans SEM verwiesen. Eine freie öffentliche Positionierung der Leistungserbringer – auch gegen ihren Auftraggeber – wäre ein Zeichen der Unabhängigkeit gewesen. Dass eine Solche ausblieb, ist besorgniserregend.

2.9. Das Bundesverwaltungsgericht fällt qualitativ fragwürdige Urteile.

Einzelne Beispiele zeigen, dass auch die Qualität der Urteile des BVGer von der Beschleunigung der Verfahren betroffen ist. Geltend gemachte Sachverhalte wurden teilweise «übersehen» und mussten mittels Revisionsverfahren erneut eingebracht werden. Die Urteile des BVGer ergehen äusserst schnell und meistens in einzelrichterlicher Zuständigkeit. Diese «neue Praxis» ist als fragwürdig zu bezeichnen. Zwar galten auch in altrechtlichen Verfahren Behandlungsfristen, deren Nichteinhaltung führte indes nicht zu einer Benachteiligung der asylsuchenden Personen. Wieso das BVGer nun die neurechtlichen, knapperen Fristen mit aller Kraft einzuhalten versucht und dabei die Entscheidqualität vernachlässigt, ist nicht nachvollziehbar.